Junge Tänzerinnen und Tänzer aus Kuba wagten Experimente. Die Resultate präsentieren sie nun in der fulminanten Danceshow „Ballet Revolución“. Vom 9. September bis 2. Oktober finden in der Zürcher Maag Halle die europäischen Erstaufführungen statt. Eine Reportage von den Proben in Havanna.
Vor dem Eingang überquert man ein hübsches rundes Bodenmosaik. „Asociación de Reporters de la Habana“ steht da in violetten, schwarzen und blauen Steinchen gefügt. Ein Stück prärevolutionäres Havanna, mit dem man hier auf Schritt und Tritt konfrontiert wird.
Die (freien) kubanischen Reporter gibt’s natürlich längst nicht mehr. Ihr hohes und vor allem innen schön ausgestattetes, an der Avenida de las Misiones gelegenes Gebäude heisst heute „Teatro Lírico“ und dient Musikern als Übungshaus. In den Räumen der unteren Etagen kann man gratis klassischen Konzerten lauschen. Im obersten Stock, unterm Dach, fanden Ende Mai Proben zu „Ballet Revolución“ in einem neoklassizistischen Saal mit Kassettendecke statt.
Ballett contra Mambo
Hier, wo ein paar Ventilatoren für nicht besonders viel Kühlung sorgen, geben die Protagonisten der Show alles. Aus dem Blaster prasselt die entfesselte Rhythmik eines Mambos von Pérez Prado. Tänzerinnen und Tänzer sausen auf den Holzboden, Muskeln und Bizeps glänzen, es rinnt der Schweiss. Als zierliche Ballerina schwebt Jenny Sosa Martínez im Spitzentanz vorüber, schnellt in die Höhe, reiht Drehung an Drehung. Jenny wird diese klassische Rolle über weite Teile der Show innehaben.
Der Mambo pumpt. Vier hochgewachsene, dunkelhäutige Tänzer rasen herein und absolvieren ebenfalls ein klassisches Programm, worauf ein Dünner interveniert und mit Überschlägen auf den Floor hüpft; sein Auftritt endet in akrobatischen Breakdance-Einlagen. Die Schwarzen beobachten dies perplex und mit Kopfschütteln. Ein „Konflikt“ bahnt sich an. Der kubanische Choreograph Roclan Gonzales Chavez erklärt dazu: „Klassische Tänzer treffen hier auf moderne und sie bekämpfen sich zunächst wie Gangs“ Die gebündelte Energie mündet schliesslich in eine Gruppensymbiose zwischen beiden Polen, mit fulminanter Dynamik zerren sich die Protagonisten rhythmisch hin und her, Schüttelbewegungen des Mambo durchzittern in Wellen den Haufen. „Am Anfang macht jeder sein eigenes Ding, doch dann vereint man sich zur Mambo-Familie“, sinniert Chavez.
Die Prado-Sequenz erzählt eine Art Geschichte, was in „Ballet Revolución“ die Ausnahme ist. Durchgängig wird jedoch Neues auf der Grenze zwischen klassischem Ballet und Contemporary Dance ausgelotet. Insofern behalten gewisse Protagonisten eine Art Rolle bei. Drei Tänzer fungieren beispielsweise als Hip Hopper. Im Vordergrund agiert oft die unglaublich talentierte 23jährige Lianett Rodriguez Gonzalez, die notabene - denkbar beste Referenz - auch im „Tropicana“ auftritt. Alle Protagonisten sind klassisch ausgebildet, die Hälfte davon praktiziert aber heute Comtemporary Dance.
Auf der in der prallen Sonne glühenden Dachterrasse hoch über dem Strassenlärm Havannas schildert Choreograph Roclan Gonzales Chavez seinen Werdegang. Der 34-Jährige wuchs in einem schwarzen Quartier der Stadt auf. „Ich war dort praktisch der einzige Weisse und lernte bereits mit fünf auf der Strasse die afrokubanischen Tänze“, erinnert sich Chavez. Eine Ballettschule hat das Naturtalent im Gegensatz zu den Protagonisten der Show nie besucht, wohl aber die Nationale Kunstschule, wo er sich mit afrokubanischer Kultur beschäftigte. Der Juan Luis Guerra-Verehrer Chavez hatte schon früh Kenntnis von Hip Hop und Breakdance. „Ich war jedoch nie grosser Fan davon“, relativiert er, „für mich ist das afrokubanische Erbe wichtiger.“
Clevere Company
Chavez arbeitet bereits seit zehn Jahren mit ATA Allstars Artists zusammen, einer australisch-britischen Gruppe, die mit Kubanern kulturell stimmige Events wie unter anderem „Lady Salsa“ und „The Bar at Buena Vista“ auf die Bühnen der Welt brachte. Gegründet wurde ATA vom Australier Tony Brady, seit 1993 stellt Mark Brady, ein weiteres Familienmitglied, Shows auf die Beine, deren Erfolg stets vom richtigen Riecher des Produzenten künden. Mark hatte denn auch die Idee zu „Ballet Revolución“. Chavez: „Mark ist der Pilot, aber jeder einzelne von uns steuert seine Ideen bei.“ Als zweiter Choreograph wirkt der in Los Angeles lebende Australier Aaron Cash mit, der sich unter anderem als Dance-Dramaturge für Chers Auftritte einen Namen machte. Wichtig auch der Brite Jon Lee, ein quirliges Energiebündel, das sich vor Ort in Havanna persönlich um die Tänzer kümmerte. Diese sind allesamt aus den beiden wichtigsten Tanzschulen Kubas hervorgegangen: derjenigen des Ballet Nacionál de Cuba und der Danza Contemporaneo de Cuba. Im Gegensatz zu den meisten ihrer Landsleute haben Toptänzer anlässlich von Shows wie „Ballet Revolución“ immer wieder die Gelegenheit, die Welt jenseits des realen Sozialismus zu bereisen und kennenzulernen.
Kubas Regime lernt ja auch gelegentlich was dazu. Seit letztem Dezember darf ein wenig privater Handel betrieben werden. Ein Kenner Havannas weist beim Schlendern durch Arkaden auf einen kleinen Werbeslogan über der Türe eines Ladens hin und meint, dass sowas bis vor kurzem noch nicht möglich gewesen sei. Man besucht zwecks Übergabe von Geschenken ihrer in der Schweiz lebenden Tochter eine ältere Dame in einem ziemlich heruntergekommenen Quartier, das an die South Bronx der 70er-Jahre erinnert. In der langen Wohnung hängen Reihen verzierter weisser Röcke und Roben, denn die Frau verfertigt Hochzeitskleider. Zu den gebratenen Platanos, die sie serviert, äussert sie den Wunsch, sich einen kleinen Prospekt für ihre Kleider gestalten zu lassen. Bescheidene Werbung, aber durchaus neu für Kuba.
Im Übrigen gibt es ausser dem mickrigen kommunistischen Parteiblättchen „Granma“ und dessen Version für die Jugend praktisch keine Zeitungen in Kuba, ganz zu Schweigen von Kiosken mit internationaler Presse. Die Information im TV ist äusserst einseitig. Und der Blick über den Malecón - diese Turtelmeile für Verliebte und Schwadroneure - aufs Meer hinaus kann einen liberalen Sozialisten schlicht auf die Palme bringen. Da draussen ankern in Abständen Schiffe. Ausflugsdampfer? Mitnichten. Das ist die Küstenwache, die aufpasst, dass die Bevölkerung nicht en masse in Booten abhaut, wie auch schon geschehen.
Nix Buena Vista
Die Musik jedoch swingt frei übers offene Meer. Kuba hat sich längst den Interlatino-Sounds geöffnet. Im Hotel-Garten erklingen aktuelle dominikanische Bachatas dezent aus den Boxen, Taxifahrer beschallen ihre Autos sowohl mit Cubaton als auch mit peurtoricanischem Reggaeton. Da wirkt ein durchaus knackig neben einem Restaurant an der schön restaurierten Plaza Vieja aufspielendes Son-Nonett, zu dessen Klängen man den miserablen Food mit zwei Bucaneros - gutem Bier - runterspült, geradezu rührend verstaubt. Havannas beste Restaurants werden übrigens meist als sogenannte Paladares privat in Wohnhäusern betrieben.
Die Sounds zu „Ballet Revolución“ repräsentieren den musikalischen Gusto vieler kubanischer Kids. Nix Buena Vista und praktisch keine Salsa. Dafür Latino Urbano mit „Loca“ von Shakira & El Cata, R&B von Beyonce, Neo-Disco von Usher, Techno-Tango, Jennifer Lopez, Ricky Martin-Hits und - da brachte sich wohl Chavez ein - „Lola’s Mambo“ von Juan Luis Guerra. Alles erfrischend von heute. Die Choreographien sind sorgfältig ausgearbeitet und auch ohne Story oft mit Symbolik aufgeladen: zu Marleys „No Woman No Cry“ umgarnen zwei Tänzer eine Tänzerin, während sich in einer anderen Sequenz Lianett gegen zehn Typen durchsetzt, um am Schluss als einzige noch aufrecht zu stehen.
Zu „Ballet Revolución“ interpretiert eine fähige Band namens Havanna Allstars die Songs live auf der Bühne. Interessant ist die Tatsache, dass noch während den Proben die Rede von einem kubalastigen Teil war. Davon sind nur ein Cumbanchero und zwei Mambos übriggeblieben, einer davon vom Dominikaner Guerra. Man entschloss sich offensichtlich für einen konsequent trendigen und auch kommerziellen Musik-Mix, der tänzerisch jedoch unkonventionell und innovativ umgesetzt wird.
Zürich, Maag Halle, Hardstr. 219
9. September (Vorpremiere) bis 2. Oktober 2011