Kuba in der Kehle

Gloria Estefans neue CD "90 Millas"

Am 1. September wurde sie fünfzig, die Diva der Exilkubaner in Miami. Und obschon sie sich aus dem Showbusiness mehr oder weniger zurückgezogen hat, wartet sie weiterhin mit stupenden Sets wie der ganz der Cubanitá gewidmeten CD "90 Millas" auf.

Man konsultiere eine Karte der Karibik. Von Floridas Südspitze aus reihen sich ein paar Inselchen wie Perlen an einer Kette ins Meer hinaus. Der äusserste Punkt ist Key West. Auf dem Cover der neuen CD scheint von hier aus eine sehnsüchtige Gloria Estefan zu versuchen, nach Süden übers Meer bis Havana zu blicken. Neunzig Meilen weit. Neunzig Meilen nah.

"90 Millas", der Titelsong der neuen CD, wirkt wie ein Dach über dem Set. "90 Millas" ist musikalische Beschwörung, ist Brujeria, ist der Versuch, Kuba mit Santeria für die Exilanten zurückzuerobern. Gloria Estefan ruft die Gottheit Elegua, den Türöffner, zur Perkussion herbei: "Elegua abre el camino, Elegua yo te sigo" (Elegua, öffne den Weg, Elegua, ich folge dir). Ins freie Kuba natürlich. Allerdings: zwischen der Santeria der Realsozialisten auf der Insel und jener der Miami-Kubaner besteht kein Unterschied und die von beiden Seiten losgeschickten Verfluchungen dürften sich irgendwo über den Meereswellen gegenseitig unschädlich machen...

Der neue Set ist ein klares Bekenntnis Gloria Estefans zu "ihrem" Kuba, das sie notabene persönlich gar nicht kennt, da sie bereits im Alter von sechzehn Monaten in die USA kam. Musikalisch hat sie die Sehnsucht nach ihrer Heimat noch nie so kompromisslos ausgedrückt, denn Interlatino-Brücken wie etwa auf "Abriendo Puertas" (1995) gibt es auf diesem Set fast keine. In der Zeit von "Abriendo Puertas" hatte sich Gloria in weiser "Weithörigkeit" sowohl dem dominikanischen Merengue als auch der kolumbianischen Musik geöffnet.

Gegen einen derart stupenden Kuba-Set - man kann über "90 Millas" ins Schwärmen geraten! – ist natürlich keinesfalls etwas einzuwenden. Man mag von ihrer Castro-Gegnerschaft und ihrer Ablehnung sozialistischer Ideen halten, was man will - Gloria gehört zu jenen kreativen Kräften, die stets dafür sorgten, dass die Música Cubana nicht ausschliesslich in insularer Inzucht dahinvegetierte. Ihre Auffassung von Boleros, Son Montunes oder Guarachas kommt im Gegensatz zu den meist ältelig und verstaubt wirkenden Son-Wiederbelebungsversuchen von der Insel zupackend und modern daher. Geschickt und stets mit einem guten Auge für den Markt lässt sie Santanas Gitarre in die schreitende Guajira "No llores" heulen, beginnt "Lo Nuestro" wie eine dominikanische Bachata, die dann in einen gefühlvollen Bolero abbiegt und später in die Zielgerade eines schnellen Son Montuno mündet. Fazit: Gloria weiss die traditionellen Formen in frische Gewänder zu kleiden.

Buchstäblich neue Kleider verpasste Gloria Estefan dem Latino-Diva-Image in den 80er-Jahren, als sie sich zusammen mit Miami Sound Machine daran machte, eine neue Art von Latin-Pop zu kreieren. Celia Cruz stand damals musikalisch zwar noch im Zenith, doch deren folkloristisch geblümte Rüschenröcke waren Auslaufmodelle. Dem setzte Gloria einen knackigen Look mit engen Lederhosen oder knappen Minis entgegen und sie bot straff durchkonzipierte Shows.

Gloria Estefan begann, sich als Gesamtkunstwerk zu präsentieren und folgte darin Vorbildern wie der 1950 geborenen Puertoricanerin Iris Chacón, einem kurvenreichen, singenden und tanzenden Naturwunder, das in den 80er-Jahren auch von Madonna bestaunt wurde. Diesem Latina-Drang zum Gesamtkunstwerk, zur Selbstdarstellung in diversen Sparten, folgen heute unter anderem auch Chacóns Landesfrau Jennifer Lopez und die Kubanerin Mayra Veronica. Auf Lopez’ aktueller CD "Como Ama Una Mujer" sind überdies die Bezüge zu Estefan akustisch deutlich, vor allem im Hit "Qué Hiciste", der denn auch aus der Feder eines Mitgliedes des Estefan-Clans stammt. Noch deutlicher hört man die Affinität beim musikalisch stark an Glorias "Mit Tierra"-Set angelehnten und sich einer schnellen kubanischen Conga annähernden "Te voy a querer" heraus. Und obschon das Topmodel Mayra Veronica eine relativ kräftige, jedoch nicht besonders persönliche Stimme besitzt, spürt man auch hier den Willen zur Selbstdarstellung in möglichst disparaten Gefilden von Reggaeton bis Cumbia - man liegt sicherlich nicht falsch, diese Tendenzen zu modisch-musikalischen Multimedia-Shows als eine Art moderne Mutation traditioneller, bunter und auch religiöser Latino-Festivitäten zu werten.

Gloria Estefan: "90 Millas", Sony / Jennifer Lopez: "Como Ama Una Mujer", Sony / Mayra Veronica: "Vengo Con To’”, Musikvertrieb


[Artikel erschienen in Aargauer Zeitung und St. Galler Tagblatt]