Michel Teló "Michel na Balada"
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Michel Teló, Sertanejo & Forró

Der 31-jährige Brasilianer Michel Teló spielt an sich meist Sertanejo, also brasilianischen Country. Bei seinem Welthit „Ai Se Eu Te Pego“, der von hiesigen Berichterstattern hilflos als „Latin-Pop“ bezeichnet wird, handelt es sich - leicht verwirrend - jedoch mehr um modernen Forró als Sertanejo. Was ist Sertanejo, was Forró?


Música Sertaneja

Sie mag Samba nicht besonders. Zusammen mit Millionen von anderen Brasilianern und Brasilianerinnen steht die in Zürich lebende Ana auf Sertanejo. Eben hat sie neue CDs aus ihrer Heimat Minas Gerais mitgebracht; die kopierten Tonträger steckt sie zu zahlreichen anderen in Kunstledermäppchen. Ana lässt sich tagein tagaus von melodiösem Sertanejo umschmeicheln, trösten und motivieren. Swingende Gitarren begleiten den Gesang der Duplas, in Videos lassen Gauchos sehnsüchtige Blicke über Hügellandschaften schweifen.

Über Landstriche, wie es sie in Minas Gerais gibt, das zu jenen küstenfernen Gegenden Brasiliens gehört, aus denen die Música Sertaneja stammt. Der Begriff leitet sich von Sertão her, der Bezeichnung für das steppenartige Hinterland des Nordostens. Entstanden ist die heutige Música Sertaneja vor rund achtzig Jahren aus der Música Caipira (Landeier-Musik) und deren von Landarbeitern sowie vagabundierenden Cantadores gepflegten Folklore-Sounds. 1929 nahm der Journalist und Musiker Cornelius Pires zum ersten Mal Songs auf, die die Eigenheiten diverser ländlicher Stile zur Sertanejo-Synthese zusammenfassten. Einflüsse kamen aus allen Windrichtungen, vor allem auch vom US-Country. Und was die Brasilianer der Adaption für würdig befinden, wird sofort zur eigenen Sache gemacht.

Sertanejo entwickelte brasilianische Charakteristiken, zum Beispiel die Duplas genannten singenden Männerduos. Duplas gibt’s wie Sand am Meer und gelegentlich nehmen sie sich optisch amüsant aus: da croont etwa ein grosser Dicker neben einem schmächtigen Kleinen. Herausragend sind zurzeit Bruno e Marrone sowie João Bosco & Vinicius, wobei ersterer nicht mit dem älteren Musiker gleichen Namens verwechselt werden darf.

In den späten 60er-Jahren rückten die Hippies Sertanejo mit ihren E-Gitarren zu Leibe. Eine hochinteressante Phase. Unter den Koryphäen dieser Zeit sei der 1945 geborene Renato Teixeira hervorgehoben, den man als eine Art Leonhard Cohen des Sertanejo bezeichnen könnte. Teixeiras stets sorgfältig ausgearbeitete Songs funkeln wie Juwelen. Zum Beispiel „Frete“: leises Gitarren-Staccato begleitet Teixeiras ruhige Stimme und das Lied mündet überraschend in einen von dezenten Akkordeonklängen durchzogenen Walzer. Teixeira gehört zu den schärfsten Kritikern des kommerziellen Pop-Sertanejo und er dürfte daher mit dem 1968 geborenen Daniel im Clinch sein. Daniel ist Superstar des Sertanejo Romantico. Als Frauenschwarm mit Dauererfolg bemüht sich Daniel heute, jenseits von naturseliger Gaucho-Romantik auch aktuell-gesellschaftliche Thematik aufzugreifen.

Dazu ist Daniel sozusagen gezwungen, denn eine ganze Generation junger Musiker - allen voran João Bosco & Vinicius, aber eben auch Michel Teló aus dem Staat Mato Grosso - pusten frischen Wind in die alten Strukturen. Sertanejo Universitario nennt sich der Erfolgstrend, der in der brasilianischen Musikszene derzeit boomt. Während die Sounds wie Creedence Clearwater Revival rocken können, sprechen Universitario-Duplas Themen wie Libertinage, polygames Verhalten und Betrug bei gleichzeitig angestrebter sozialer Verantwortung an. Das kommt in der brasilianischen Musikszene, die stets mit raffinierten Texten gesegnet ist, sehr gut an.

Wie erklärt sich der durchschlagende Erfolg eines so sentimentalen Genres wie Sertanejo? Die Menschheit lässt sich eben platterdings in Romantiker und unromantische Leute einteilen. Während man in Westeuropa häufig verklemmten Zwittern begegnet, die infolge von Stress und gefragter Pragmatik nicht zu ihren Gefühlen stehen können, lassen sich Brasilianer viel leichter gehen. Was absolut kein Klischee ist. Man kennt in Brasilien keine Berührungsängste gegenüber einer Musikantenstadel-Atmosphäre. Wenn - und das ist meistens so - die dargebotene Musik und die Texte ein relativ hohes Niveau besitzen, singt da jede Akademikerin und jeder Intellektuelle mit.

Forró

In einem alten Musikfilm erklimmen vier „Banditen“ mit trotzig quer aufgesetzten Napoleonhüten die Bühne. Der Oberlump äugt unter der Krempe hervor ins Publikum, hängt sich die Sanfona - ein Akkordeon - um und legt mit einem schunkelnden Xote los: Luiz Gonzaga spielt zum Forró auf. „Schote“ ausgesprochen und mit unserem „Schottisch“ vergleichbar, handelt es sich bei Xote um eine der vier Forró-Hauptformen. Gonzaga (1912-1989) gilt bis heute als die wichtigste Integrationsfigur des Genres und er machte diese nordostbrasilianische Musik im ganzen Land bekannt. Das Outfit von Gonzagas Band sollte an den Banditen Lampião erinnern, einen brutalen und hochmusikalischen Delinquenten, der mit seinen Cangaceiros jahrzehntelang den Nordosten Brasiliens unsicher machte, bevor er 1938 zur Strecke gebracht wurde. Der Killer war Kulturträger und gilt als Mythos, denn der festfreudige Lampião trug einiges zur Verbreitung des Forró bei.

Was ist Forró? Viele Leute mögen noch Lambada im Ohr haben. Bei diesem brasilianischen Hype mit seiner sehnsüchtigen Akkordeonmelodik handelt es sich um eine Forró-Variante, zu welcher Ende der 80er-Jahre plötzlich weltweit tanzende Paare eng aneinanderklebten. In Brasilien hat Lambada später mit Zouk und anderen Karibikstilen fusioniert, neue Tänze wie Lambada Zouk sind entstanden.

Der ursprüngliche Forró Pé de Serra, also jener vom „Fuss der Berge“, besitzt über hundertzwanzigjährige Wurzeln. Hübsch die Erklärung zur Herkunft des Begriffes: als eine englische Company im späten 19. Jahrhundert die erste Bahnstrecke durch den Teilstaat Pernambuco einweihte, stand über dem Eingang zum Festgelände „For all“, woraus „Forró“ abgeleitet wurde. Das Instrumentarium der traditionellen Trios besteht aus der Trommel Zabumba, einem Triangel und der Sanfona oder einem Akkordeon. Die Musik lässt sich von Osteuropäischem und Alpenländischem herleiten, das mit sinnlicher afrobrasilianischer Synkopierung aufgepeppt wird. Die wichtigsten Forró-Stile sind neben dem Xote der sanfte Baião, der aufgekratzte eigentliche Forró sowie die Hochtempoform Xaxado. Forró ist eine ausgesprochen fröhliche Tanzschaffe, die meist romantische Melodik swingt lüpfig zu Texten, die von Liebesfreud und Liebesleid handeln.

Inzwischen hat auch Ex-Kulturminister Gilberto Gil mit „Fé na Festa“ ein - notabene gutes und vielfältiges - Forró-Album eingespielt. Seinen Seitensprung stellt er als „Kindheitserinnerung“ dar, was zur irrigen Meinung führen könnte, es handle sich bei Forró um ein „Museum“. Mitnichten. Wie Salsa, Samba und Tango gehört Forró zu den zeitlosen Universen der Música Latina. Sämtliche Forró-Formen sind quicklebendig, von den einfachen Trios über Forró Universitario, der von erweiterten und elektrisch verstärkten Formationen wie Falamansa und Bicho De Pé geboten wird, bis zum Breitleinwand-Pop-Format, das Mastruz Com Leite, Banda Calypso, Banda Calcinha Preta und Avioes do Forró zelebrieren, wobei die letzteren drei bereits mehrmals in der Schweiz gastierten.

Zum gleichen Genre gehört auch Michel Telós Hit, der weder ein Hype noch eine Innovation ist: moderner Forró mit charakteristisch hechelndem Akkordeon. Gewaltiger Pop, der dem brasilianischen Hinterland-Musikreservoir entspringt, und der bis dato auf unserer ignoranten und ahnungslosen White-Trash-Pop-Szene kaum wahrgenommen wurde. Infolge der fast deckungsgleichen Herkunft umschlingen und vermengen sich moderne Sertanejo- und Forró-Formen seit einiger Zeit, es entstehen, wie stets in der Música Popular Brasileira, zündende Mixturen. Obschon es seit langem Ohrwürmer derselben Strickart gibt, liefert Michel Telós Hit nun der Welt ein Paradebeispiel. Grund des Durchbruchs: das Tänzlein namhafter Fussballer zu „Ai Se Eu Te Pego“ verbreitete sich wie ein Lauffeuer über die Erde, obschon es von dem Song bereits früher relativ erfolglose Interpretationen gab.

Michel Teló am 6. März im Zürcher X-Tra (ausverkauft).