Der französisch-schweizerische Regisseur Georges Gachot drehte mit Portraits über die Tropicalista Maria Bethânia und die Sängerin Nana Caymmi bereits zwei Dokumentarfilme zu brasilianischen Musikthemen. Rechtzeitig zur Weltmeisterschaft kommt nun "O Samba" in die Kinos. Packend!
Nacht. Man fühlt sich in einen Science-Fiction-Film versetzt. In Plastik gehüllte mysteriöse Dinge werden auf Trucks langsam durch die Strassen gezogen. Hinter dem Plastik nimmt man die Schatten von riesigen Figuren wahr. Ein behorntes buntes Viech verschwindet in der Dunkelheit. Etwa zehn Typen schieben ein monströses Vehikel mit Podien für Tänzerinnen und Tänzer durch die Rua. Die Sambaschule Vila Isabel bereitet sich auf den Karneval vor.
Schnitt. In einer Halle übt eine Perkussionsgruppe auf diversen Instrumenten und Trommeln. In einem Bus fährt sodann eine Delegation von Vila Isabel zu einer der anderen Sambaschulen Rios, denn man besucht und hilft sich gegenseitig; zumindest vor dem Karneval. Wenn es dann soweit ist, liefert man sich allerdings einen harten Konkurrenzkampf um den ersten Preis. Schnitt zurück: noch mehr verpackte Monster werden verschoben.
Bildgewaltig
Fulminanter Einstieg in einen Film mit der Bildgewalt von Fellini. Man kennt ja diese einförmigen jährlichen Berichterstattungen über den Karneval in Rio. Zum Gähnen, auch wenn diese natürlich immer etwas hergeben. Der Regisseur Georges Gachot übertrifft mit seinem Film nun jede übliche Dokumentation, da er optisch und inhaltlich wirklich tief eingetaucht ist in die sinnliche Mystik des Samba. Gachot präsentiert die legendäre Samba-Schule Vila Isabel, eine von vierundvierzig, die es in Rio gibt. Die Konzentration darauf ist weise, denn ein dermassen opulentes Sujet braucht einen Fokus. Der Nachteil: man sieht die Welt des Samba fast nur aus der Sicht von Vila Isabel und ihrem Star Martinho da Vila. Es fehlen auch Informationen dazu, dass es etliche verschiedene Arten von Samba gibt, beispielsweise Samba da Gafiera, ein paarweise getanzter eleganter Gegensatz zum Samba no Pé, dem Karnevalssamba. Und: Brasilien ist musikalisch beileibe nicht gleich Samba, ein Eindruck, der im Verlauf des Filmes entstehen könnte.
Raffinierte Texte
Eigentlich ist „O Samba“ in grossen Teilen ein Film über Martinho da Vila. Der 1938 im ländlichen Duas Barras geborene Da Vila fungiert immer noch als Faktotum von Vila Isabel und als zentrale Figur der ganzen Szene. Mit seinem breiten Lachen und jovialen Naturell strahlt da Vila die ganze positive Energie des Samba aus. Der Film switcht hin und her zwischen den Aktivitäten rund um die Vorbereitungen zum Karneval und ruhigen Konzertaufnahmen sowie Gesprächen mit da Vila. Mit seinem sonoren Bass philosophiert er in der Küche oder auch in Duas Barras, wo er eine Art Farm besitzt, über die Welt des Samba. Das Mitglied der kommunistischen Partei erweist sich sowohl in seinen Songtexten als auch im Gespräch einfalls- und geistreich.
Und poetisch. Da wird etwa der Mond gebeten, früher aufzugehen, wenn die Büsche Samba tanzen - notabene zu einem Solo-Cavaquinho, einer kleinen mandolinenähnlichen Gitarre, die das eigentlich zentrale Instrument im Samba ist. Ergo gibt es im Film auch eine Szene, in der in einer grossen Halle ein ebenso grosses Publikum lediglich zu den Klängen eines Cavaquinho singt. An anderer Stelle wird verlautet, São Paulo bringe den Kaffee, Minas Gerais die Milch, doch Rio den Samba. Anrührend auch da Vilas Liebeslieder; in einer Ode an die Geliebte heisst es beispielsweise: „Du bist meine Geschichte und mein Geheimnis, mein Stern, mein Vertrauen, meine Zigarette und mein Kaffee“.
Thema Angola
1988 gewann Vila Isabel mit dem Thema „Kizomba / Zelebration der schwarzen Rasse“ am Karneval den ersten Preis. Moderner Kizomba ist notabene ein meist gemächlicher und sinnlicher angolanischer Paartanz, der nicht nur in der lusafrikanischen Welt im Trend liegt. Angola, woher die Portugiesen viele Sklaven nach Brasilien verschleppten, geistert bis heute als mythisch-mystischer Begriff durch Vila Isabel, dessen Karnevalsmotto im Film denn auch „Song of Freedom / Angolas Arrival“ heisst. Immer wieder überraschen opulente Bilder zur Herstellung der Kostüme, von Federschmuck, Tanzpodien und dergleichen mehr: Samba als Jobbeschaffer und Industrie.
Beim Karneval präsentiert sich Vila Isabel dann mit einem gewaltigen Wagen voller afrikanischer Anspielungen, geschmückt mit bemalten Plastiken von Antilopen, Giraffen, Zebras, Leoparden und gefolgt von einer Menge martialisch herausgeputzten Tänzerinnen und Tänzern. Ein absolut faszinierender Film!
Kinostart in der Deutschschweiz ist am 24. April