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"West Side Story": Fünfzig, faszinierend und auch ein Latino-Musical

Mit dem Prädikat „Das Original“ bringt eine deutsch-amerikanische Co-Produktion zum 50. Jubiläum der „West Side Story“ eine packende, an der Urversion orientierte Inszenierung auf die Bühnen der Welt. Fazit: das Musical hat nichts von seiner Faszination verloren und ist inhaltlich so aktuell wie eh und je.

Man schreibt das Jahr 1957. Elvis ist im Saft, Little Richard shoutet „Lucille“ und Fats Domino verbucht mit „I’m Walking“ seinen für lange Zeit letzten grossen Hit. Im New Yorker Birdland jammt Dizzie Gillespie mit Kubanern wie Mario Bauza. Zusammen hat man den Latin-Jazz kreiert. Ein paar Strassen weiter schlottern im Palladium Tänzerinnen und Tänzer mit den Knien zu den letzten Zuckungen des sogenannten Mambo-Craze.

Der Mambo-Craze geistert auch durch die „West Side Story“, die im September ebendieses Jahres 1957 am Broadway uraufgeführt wird. In der „Dance at the Gym“-Szene treffen die weissen Jets an einer Tanzveranstaltung auf die puertoricanischen Sharks. Optisch effektiv, wie das Meiste an dieser Jubiläumsinszenierung: rechts die Jets in hellen Anzügen, die an die goldene Kluft von Elvis gemahnen, links der farbige Puertoricaner-Haufen mit den Chicos in dunkelroten, violetten und eigelben Anzügen und den Frauen in bunten Rüschenpettycoats. Der Mambo punmpt und groovt, die Tanzenden zucken hüftschwingend über die Bühne und vermischen sich zu einem pointillistischen Farbwirbel. Es ist die einzige Szene des Musicals, in welcher, verführt durch die unwiderstehliche Macht der Musik, die Gangs miteinander tanzen. Tony und Maria lernen sich hier kennen. Die fatalen Ereignisse nehmen ihren an „Romeo und Julia“ orientierten Lauf. Wie bei Shakespeare geht es um Machtansprüche, Intoleranz, Ohnmacht, Liebe und Tod.

Romeo und Julia im Getto
Die zündende Idee zur „West Side Story“ kam dem Choreographen Jerome Robbins in den 40er-Jahren, als er mit Montgomery Clift dessen Rolle als Romeo einübte. Robbins kontaktierte am 6. Januar 1949 den gleichaltrigen - beide sind sie 1918 geboren - und aufstrebenden Dirigenten und Komponisten Leonard Bernstein. Vier Tage später trafen sich Bernstein und der Dranatiker Arthur Laurents in Robbins Appertement. Man diskutierte über das Projekt, dessen Verwirklichung allerdings ein langer und steiniger Werdegang bevorstand. Nach fast zehn Jahren hatte man sich zusammengerauft, zum bestehenden Creative Team war inzwischen noch Stephen Sondheim als Texter gestossen.

Zunächst brütete man die etwas schlappe Idee aus, den Konflikt in der Lower East Side zwischen jüdischen und katholischen Protagonisten austragen zu lassen. Was dann einem verschärften Plot wich, denn man wählte die Upper West Side als Schauplatz, die damals sowohl von Puertoricanern als auch von ärmeren Weissen besiedelt war. Die von polnischen Emigranten abstammenden Jets und die Latinos der Sharks besitzen infolge der Zugehörigkeit von Puerto Rico zu den USA (siehe Kasten) einen bürgerrechtlich gleichen Status. Der Konflikt zwischen den Gangs wird also auf Augenhöhe ausgetragen.

Horror einer Sommernacht
Die Handlung ist im Text auf sieben reale Stunden begrenzt, die dann auf der Bühne in etwa anderthalb Stunden am Publikum vorbeirasen. Vom provozierenden Fingerschnippen der zu Beginn umherschleichenden Bandenmitglieder bis zum finalen Mord an Tony spannt sich ein hochdramatischer Bogen ohne Firlefanz. Die gleich zur Anfangsszene clandestin tropfende Musik mit ihren plötzlich aufflackernden perkussiven und schrillen Tupfern weckt Erinnerungen an Richard Strauss’„Till Eulenspiegel“, was neben Gershwin- und Weill-Anklängen, Jazz-, Blues- und Música Latina-Einlagen sowie, etwa im Duett zwischen Maria und Anita, gelegentlichem Schwelgen in Puccini-Süffigkeit die Haupteinflüsse auf Bernsteins zündende und im Endeffekt durchaus eigenständige Musik sind.

Man hält sich bei dieser Jubiläums-Inszenierung in den wichtigsten Punkten strikt ans Original. Trotzdem wirkt gerade das Bühnenbild modern durch seine zwei filigran skelettierten, mauerlosen und beweglichen Häuserfronten mit Balkonen und Feuerleitern. Die Beleuchtung des Gestänges - von dämmerungsrot bis nachtblau - schafft reizvoll wechselnde Stimmungen. Auf den Hintergrund werden grosse New York-Fotos projiziert, die Fläche bleibt aber auch oft frei für Farben, etwa für eine rotorange Big Apple-Dämmerung, vor der sich die Akteure als Silhouetten bewegen. New York-Kenner dürfen sich angesichts soviel clever inszenierter Stimmungsmache in Nostalgie suhlen.

Notorische Anita
Vieles an einer „West Side Story“-Aufführung steht oder fällt mit der Besetzung der Anita, der stärksten Figur des Musicals. Breitbeinig, den Bauch rausgedrückt und die Hände in die Hüften gestemmt, imitiert die Power-Latina ironisch das machöse Gehabe der Chicos ihrer Bande. Anita hat entschieden andere Ansichten über die USA, als ihre kompromissbereite, erst vor kurzem eingewanderte Freundin Maria, und Anita führt auch mit gellender Stimme den Spottchor „America“ an. Die Hauptrollen, also auch jene der Anita, sind in dieser Jubiläumsinszenierung doppelt besetzt, die vom Züritipp in Paris gesehene Lana Gordon spielt Anita mit Pfupf und Verve. Im Gegensatz zu Anita, deren Feuer sich in roten Röcken ausdrückt, agiert die sensible und bezeichnenderweise in einem Heiratskleiderladen arbeitende Maria stets in hellen Röcken - ein Beispiel für die in dieser „West Side Story“-Version stets angewandte symbolistische Leitmotiv-Technik. Die Staffage zum fahrbaren Bridal-Store ist übrigens neben dem Liebesbett und einer Jukebox praktisch das einzige naturalistische Requisit im Jubiläumsremake, das sich dadurch vom realistischeren Bühnenbild der Uraufführung klar unterscheidet.

Im Grunde genommen herrschen in der „West Side Story“ zwei Haupttempi vor: der Drive der Gang-Szenen mit kollektivem Ausstrecken von Armen, Kreisen der Hüften, Rennen und Huschen neben dem Zeitstillstand in den romantischen Oasen, den lyrischen Liebesszenen zwischen Maria und Tony. Eine dramatische Effektivität, der man sich bis heute nicht entziehen kann.

Das Finale ist hart. Kein Happyend, sondern drei Tote. Tonys Leiche wird am Schluss durch die vereinten Sharks und Jets wie Siegfried in der „Götterdämmerung“ von der Bühne getragen. Die Musik klingt in fragenden Akkorden aus, die das Ende der Tragödie kommentieren: kann man sich vielleicht künftig auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner einigen - auf ein bisschen zwischenmenschliche Toleranz?

Die Handlung
New Yorker Upper West Side in den 50er-Jahren. Die von polnischen Einwanderern abstammenden Jets und die puertoricanischen Sharks, zwei Jugendbanden, befehden sich. Tony, ein ehemaliger Jet, soll helfen, die Sharks zu vertreiben. Bei einem Tanzabend verliebt sich Tony in Maria, die Schwester des Shark-Anführers Bernardo. Tony klettert später über die Feuerleiter von Marias Haus zu ihr hinauf und gesteht ihr seine Liebe. Der Jet-Chef Riff und Bernardo treffen sich, um einen Ort für den entscheidenden Kampf zu bestimmen. Bei der Auseinandersetzung tötet Bernardo Riff und wird seinerseits von Tony erstochen. Trotzdem liebt Maria Tony weiterhin. Marias Freundin Anita wird beim Überbringen einer Botschaft an Tony von den Jets vergewaltigt. Sie rächt sich, indem sie behauptet, der Shark Chino habe Maria getötet. Während Tony in der Strasse nach Chino sucht, erschiesst ihn dieser.

Puerto Rico, ein assoziierter Freistaat der USA
Die östlichste und kleinste Insel der grossen Antillen wurde 1898 im spanisch-amerikanischen Krieg von den Amerikanern besetzt und ist eine Art Kolonie der USA. Obschon die Puertoricaner seit 1917 US-Bürgerrechte besitzen, bleibt der politische Status der Insel bis heute unterschwellig umstritten. Die Insel verfügt über ein eigenes Parlament, doch trotz US-Staatsbürgerschaft dürfen Puertoriceños nicht an den US-Präsidentschaftswahlen teilnehmen und im Repräsentantenhaus besitzen sie einen Abgeordneten ohne Stimmrecht. Puertoricanische Einwanderer haben vor allem in New York das (musik)kulturelle Leben durch Salseros wie Eddie Palmieri und Willie Colón, aber auch durch jüngere Stars wie Ricky Martin und Jennifer Lopez mitgeprägt; überdies ist Puerto Rico führend bei neueren Trends wie Reggaeton.

Die Gegend in der Upper West Side, wo das Musical spielt, hat sich längst zum Wohlstands-Gebiet entwickelt. Weiter oben, in den sogenannten Heights, dominieren jedoch seit den 70er-Jahren die Dominikaner, die her ihre Clubs betreiben und für echtes Latinoleben sorgen.



Zürich, Theater 11, Thurgauerstr. 7
9. 1. bis 10. 2. 08
Di-Fr 19.30 Uhr, Sa/So auch 14.30 Uhr




http://www.westsidestory.ch